Dreieinhalb Monate nach der Diagnose hallte dieses Wort – Raumforderung – immer noch in ihrem Kopf, hatte sich dort festgebissen wie eine Zecke und nährte sich an ihren Gedanken.
Den ganzen Vormittag war sie in der Wohnung auf und ab gelaufen. Gegen Mittag, nachdem sie bereits zweimal in der Klinik angerufen hatte, hielt sie es nicht mehr aus. Warten konnte sie auch vor Ort.
14.15 Uhr. Der Linoleumboden zeigte in der Mitte des Ganges leichte Rissspuren. Sie kam auf 35 haarfeine Kratzer, die sich dunkler von dem Einheitsgrau absetzten. Es waren genau 27 Schritte zum Aufzug. Immer wieder lief sie diese 27 Schritte, bei jedem Dingdong, das den Halt auf der Etage der Station ankündigte. 27 Schritte hin, 27 Schritte wieder zurück, zu ihrem Stuhl, direkt vor dem geschlossenen Eingang der Intensivstation.
16.00 Uhr. Mittlerweile war Besuchszeit. Menschen kamen, baten um Einlass, um ihre Erkrankten zu besuchen. 35 Schritte bis zur Toilette. Eine Krankenschwester hatte Mitleid mit ihr. Brachte ihr eine Tasse Kaffee. Nein, sie hatte noch nichts gehört. Er war noch im OP.
17.45 Uhr. Sie zitterte am ganzen Körper. Schweißperlen auf der Stirn und im Nacken. Wieder 27 Schritte zum Aufzug. 27 Schritte zurück. An den Wänden medizinische Plakate. Schwarze Streifen von angestoßenen Betten. Nein, noch nichts gehört.
18.10 Uhr. Die nette Krankenschwester verkündete: OP beendet. Ihr Mann wird gleich nach oben gebracht. Übelkeit. Erleichterung. Sorge. Schwindel.
18.35 Uhr. Diesmal war es sein Dingdong. Das Bett rollte an ihr vorbei. Ein Kopfverband mit einem Blutfleck auf der Stirn. Die Augen geöffnet. Er sah sie an. Sah er sie wirklich an? Der Arzt kam auf sie zu. Sie hörte ihn und seine Erklärungen, über den Verlauf der OP, über die Tapferkeit ihres Mannes, über die Vorteile einer Wach-OP, über elf Stunden Operation, über den Ausfall der rechten Hand, über …
Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie entschuldigte sich. Der Arzt strich ihr über die Schulter. Hörte auf mit seinen Erklärungen. Alles in Ordnung. Die Anspannung. Alles ist gut. Alles wird gut.
Aber Ärzte sind keine Hellseher.