Schlagwort-Archive: Textfragmente

Eigenverantwortung

Sie fühlte sich stets verantwortlich. Für alles und jeden machte sie sich die zu tragende Verantwortung bewusst. Dieser Drang, etwas unternehmen zu müssen, zu handeln, zu reagieren, war immer gegenwärtig, immer vorhanden.

„Du kannst nicht die ganze Welt retten – nicht für alles die Verantwortung übernehmen“, sagte sie sich. Sagten auch andere. Viele andere. Und doch war es da. Dieses zwanghafte Empfinden. Es ließ sie nicht los.
Mit einem feinen Gespür übergab ihr Umfeld ihr den Vortritt. Man überließ ihr das Kümmern. Allein. Alleinverantwortlich. Und sie funktionierte. Wochen, Monate, Jahre.

Doch eines Tages im November, im Grau und Trübsinn dieses Monats, brach sie zusammen. Wie ein Luftballon, aus dem die Luft entweicht. Ein kurzes Aufbäumen, ein unkontrolliertes Flattern durch Raum und Zeit, ein in sich Zusammenfallen und erschlafftes Liegenbleiben.

Da bemerkte sie, dass sie etwas übersehen hatte: Die Verantwortung für sich selbst.

Der schwarze BH

Da hängt er an der Wäscheleine. Der schwarze BH. Einsam und verlassen, das einzige Wäschestück an der meterlangen Leine, die sich an der Trave entlang schlängelt. Bestaunt von Spaziergängern, die durch die Altstadt flanieren. Bewundert von Ausflüglern auf den Touristenbooten.

Es scheint ihm zu gefallen. Vergnügt flattert er im Wind. Tanzt um die Leine. Erhebt sich in die Luft. Dreht und wendet sich. Zeigt sich von allen Seiten. Genießt die Aufmerksamkeit. Dieser schwarze BH.

Im Treppenhaus

Da hat die Putzfrau wieder einmal um den Blumenkübel herumgeputzt. Die getrockneten Wasserflecken sind immer noch zu sehen. Unmöglich! Und überhaupt, die Fensterbänke sind doch keine Ablagefläche für … ja, was ist das eigentlich? Ist ja auch egal. Das hat auf jeden Fall dort nichts zu suchen. Ab damit in den Müll. So! Basta!
Warum stehen eigentlich immer die Schuhe von den Breuer-Blagen vor der Wohnungstür? Als ob das etwas an der Ordnung oder der … Sauberkeit bei denen ändern würde. Vielleicht sollte man die Schuhe gleich mit entsorgen. An Kinderfüße gehört sowieso besseres Schuhwerk als diese Dinger.
Ob der Obermeier in Urlaub ist? Obwohl, der Briefkasten wird schon geleert. Das habe ich eben nachgesehen. Aber warum nimmt er dann die Reklameblättchen nicht mit? Schließlich müssen wir alle unsere Werbeblätter entsorgen. Aber der Herr hält sich wohl für etwas besseres … Pah!
Woher kommt eigentlich dieser Krach? Als Musik kann man das wahrlich nicht bezeichnen. Wahrscheinlich hat die junge Studentin wieder Herrenbesuch. Unerhört! Und das um diese Uhrzeit!
Da – das darf doch wohl nicht wahr sein. Wer stellt denn seine sämtlichen Mülltüten in den Flur? Was für eine Schweinerei!
… Moment … Ups … das ist ja mein Müll … Ich wollte ihn doch noch zum Container bringen. Hätte ich doch glatt vergessen. Kann ja mal passieren. Wenn ich mich schon um alles hier im Hause kümmern muss. Fürwahr, als Hausmeisterin hat man es wirklich nicht leicht.

Nachtrag: Diese Hausmeisterin ist frei erfunden. Oder sagen wir mal erschaffen aus diversen Erzählungen Hausmeister-geplagter Menschen. Nur, damit keine Missverständnisse aufkommen 😉

Die Gedankenfabrik

Es rattert und knattert. Im Kopf hat sich eine Maschinerie entwickelt, die ständig erneuert, modernisiert und erweitert wird. Erhebungen werden durchgeführt, nach deren Auswertung die Produktionsleistung gesteigert werden soll. So purzeln die Gedanken von den Laufbändern, werden vermessen, sortiert, protokolliert und verpackt. Manche in Schubladen gesteckt, andere wiederum sofort freigesetzt. Gute Erzeugnisse sind die, die etwas bewirken. Die Gedanken selbst sind neutral. Es gibt weder gute noch böse. Entscheidend ist, was der Verbraucher aus ihnen macht.
Die Produktionsleitung hat nunmehr beschlossen, dass die Nachtschicht nicht mehr erforderlich ist. Am Tage werden genügend Gedanken produziert, so dass das Werk nachts – wenn auch nicht geschlossen – doch auf Ruhemodus geschaltet werden kann.
Eine gute Entscheidung. Das Management scheint kompetent und stimmt dem Vorschlag zu. Doch ist es auch in der Lage, die Neuerungen durchzusetzen?
Der Betriebsrat fürchtet Entlassungen. Oder Arbeitszeitverkürzungen. Zu viele Synapsen sind beschäftigt. Gibt es wirklich genug Arbeit für alle Beschäftigten in der Früh- und Spätschicht? Ohne Nachtschicht?
Das Management arbeitet derzeit an einem Sozialplan. Schließlich soll die Gedankenfabrik weiterhin ein Unternehmen der Zukunft sein und auch in ein paar Jahrzehnten gute Produkte herstellen. Man wird sehen, was weiter passiert …

Lara’s Entdeckung

Entsetzt – oder nein – eher erstaunt hing ihr Blick auf dem Bildschirm des PC’s ihrer Freundin. Konnte das sein? Ein Foto von ihr in die virtuelle Welt hinausgeschossen, sichtbar für die ganze Welt? Auf irgendeiner Bloggerseite?
Das Foto war nur wenige Tage alt. Ihr Gesicht konnte man zwar nicht erkennen, aber ihre Körperhaltung, ihre Kleidung, ihre Frisur ließen für jemanden, der sie kannte, keine Zweifel offen.
Es musste vor drei Tagen gewesen sein, als sie am frühen Nachmittag feststellte, dass irgend ein Idiot ihr Fahrrad gestohlen hatte. Da musste sie gezwungenermaßen auf die S-Bahn zurückgreifen, um zum „Old Daddy’s“ zu fahren – die Kneipe, in der sie dreimal wöchentlich kellnerte.

„Ich habe nichts gemerkt … und gefragt hat mich auch niemand …“, flüsterte sie. Ihre Freundin legte hilflos den Arm um ihre Schulter, tröstende Worte wollten ihr einfach nicht einfallen.

„Dieser Text … wen interessiert, wie ich mich kleide? Mich selbst interessiert es doch auch nicht?“ Tränen liefen nun über ihr Gesicht.

„Wir leben in einer Großstadt. Wo ist nur diese vielgepriesene Toleranz?“

„Ich weiß es nicht, Lara. Manche Menschen sind so … “

„Mag sein. Aber darf jemand einfach so ein Foto von mir ins Netz stellen? Ist so etwas nicht verboten? … Was kann ich tun? … Soll ich überhaupt etwas tun?“

Rezidiv

Sie starrte auf das Blatt Papier in ihren Händen, das man ihr an der Anmeldung der radiologischen Praxis wortlos überreicht hatte. Rezidiv. Dieses kleine Wort stach hervor, schien einen größeren Schrifttyp zu haben, fettgedruckt, Großbuchstaben, rot. Und doch wusste sie, dass es nicht so war.
Nur 18 Monate nach der schweren OP, die aus ihrem Mann eine pflegebedürftige Person gemacht hatte, nun das. Wie sollte sie ihm diese Nachricht schonend beibringen?
Leise begann der Himmel zu weinen. Sie spürte es nicht. Regungslos stand sie vor der Praxis, starrte auf das Blatt Papier in ihren Händen, auf dieses kleine, große Wort, und ihre Tränen vermischten sich mit dem zarten Nieselregen.
Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so einsam, so verlassen, so verraten gefühlt.

Kurz vorm Schuss

Bedächtig schraubte er den Schalldämpfer auf seine Baretta 92. Heute würde er ihn erwischen und sein Auftrag wäre damit erledigt. Sein 64. Auftrag. Die Geschäfte liefen gut in den letzten Jahren und er hatte sich einen Namen gemacht. Schnell, diskret, sauber. Das war sein Motto. Sein Bankkonto in der Schweiz und das in Luxemburg waren wohl Beweis genug dafür, dass er gut war. Richtig gut! Mit seinen 32 Jahren würde er sich bald zur Ruhe setzen können. Das Strandhaus auf Barbados war bereits eingerichtet und wartete nur darauf, dass er sich dort niederließ.

Leon atmete tief durch. Wenn er nur ein deutlicheres, schärferes Foto von seinem Auftraggeber bekommen hätte. Nun, trotzdem hatte er es geschafft. Einige Tage zuvor hatte er seinen Klienten – so nannte er für gewöhnlich seine Opfer – ausfindig gemacht. Und mittlerweile konnte er sicher sein, seine tägliche Routine zu kennen.

Ein leichtes Kribbeln durchströmte seinen Körper. Wie immer, wenn der Abschluss eines Geschäfts bevorstand. Diese Mischung aus Furch und Erregung … ob er dieses Gefühl jemals vermissen und ob ihm das Inselleben irgendwann überdrüssig würde?

Ungeduldig wischte er diesen Gedanken beiseite. Er hatte sich schließlich auf seine Auftrag zu konzentrieren.

Er schlenderte die Straße entlang, verlangsamte seinen Schritt, als er merkte, dass er zu früh vor dem Hauptportal des Technologiekonzerns erscheinen würde. Denn er würde erst gegen 17.00 Uhr das Gebäude verlassen und um 17.06 Uhr die Loge mit den Wachhabenden passieren. Nur ruhig. Langsam.

Leon hatte Übung. Die Baretta unter seinem Jackett verlieh ihm ein Gefühl von Größe und Macht. Langsam schritt er auf sein Ziel zu. Noch hundert Meter. 17.05 Uhr. Er war exakt in der Zeit. Achtzig Meter. Da erspähte er seinen Klienten, auf dem Weg zur Straße.

Leon lächelte. Alles lief perfekt. Sie würden genau aufeinander treffen. Ein Skater kam ihm entgegen. Fixierte ihn. Leon wunderte sich. Der Skater kam ihm bekannt vor. Und dann spürte er einen brennenden Schmerz in der Brust. Eine Falle, dachte er noch während seine Beine versagten. Und dann wurde es dunkel.

OP gut überstanden! – Wirklich?

Dreieinhalb Monate nach der Diagnose hallte dieses Wort – Raumforderung – immer noch in ihrem Kopf, hatte sich dort festgebissen wie eine Zecke und nährte sich an ihren Gedanken.

Den ganzen Vormittag war sie in der Wohnung auf und ab gelaufen. Gegen Mittag, nachdem sie bereits zweimal in der Klinik angerufen hatte, hielt sie es nicht mehr aus. Warten konnte sie auch vor Ort.

14.15 Uhr. Der Linoleumboden zeigte in der Mitte des Ganges leichte Rissspuren. Sie kam auf 35 haarfeine Kratzer, die sich dunkler von dem Einheitsgrau absetzten. Es waren genau 27 Schritte zum Aufzug. Immer wieder lief sie diese 27 Schritte, bei jedem Dingdong, das den Halt auf der Etage der Station ankündigte. 27 Schritte hin, 27 Schritte wieder zurück, zu ihrem Stuhl, direkt vor dem geschlossenen Eingang der Intensivstation.

16.00 Uhr. Mittlerweile war Besuchszeit. Menschen kamen, baten um Einlass, um ihre Erkrankten zu besuchen. 35 Schritte bis zur Toilette. Eine Krankenschwester hatte Mitleid mit ihr. Brachte ihr eine Tasse Kaffee. Nein, sie hatte noch nichts gehört. Er war noch im OP.

17.45 Uhr. Sie zitterte am ganzen Körper. Schweißperlen auf der Stirn und im Nacken. Wieder 27 Schritte zum Aufzug. 27 Schritte zurück. An den Wänden medizinische Plakate. Schwarze Streifen von angestoßenen Betten. Nein, noch nichts gehört.

18.10 Uhr. Die nette Krankenschwester verkündete: OP beendet. Ihr Mann wird gleich nach oben gebracht. Übelkeit. Erleichterung. Sorge. Schwindel.

18.35 Uhr. Diesmal war es sein Dingdong. Das Bett rollte an ihr vorbei. Ein Kopfverband mit einem Blutfleck auf der Stirn. Die Augen geöffnet. Er sah sie an. Sah er sie wirklich an? Der Arzt kam auf sie zu. Sie hörte ihn und seine Erklärungen, über den Verlauf der OP, über die Tapferkeit ihres Mannes, über die Vorteile einer Wach-OP, über elf Stunden Operation, über den Ausfall der rechten Hand, über …
Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie entschuldigte sich. Der Arzt strich ihr über die Schulter. Hörte auf mit seinen Erklärungen. Alles in Ordnung. Die Anspannung. Alles ist gut. Alles wird gut.

Aber Ärzte sind keine Hellseher.

Neid II oder: Die schöne Nachbarin

Sie betrachtete ihn. Wie attraktiv er doch war. Immer, wenn sie sich trafen, erfüllte es sie mit unermesslichem Stolz, dass ihr Bruder so ein wundervoller Mensch war. Äußerlich und innerlich. Schön, erfolgreich, liebenswert. Und seitdem sie wusste, dass ihre Krankheit nicht heilbar war, langsam voranschreiten, bis sie früher oder später als Pflegefall enden würde, seitdem liebte sie ihn umso mehr. Er kümmerte sich um sie, baute sie auf, spendete Trost, bot ihr ein abwechslungsreiches Leben.

Doch in letzter Zeit hatte sie das untrügliche Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Jemand versuchte, ihr das Leben schwer zu machen. Aber warum? Und vor allem – wer?
Sie lebte erst sei kurzem in dieser Stadt, war ihrem Bruder gefolgt. Sie kannte niemanden. Und doch schien es, als wollte sie jemand von hier vertreiben. Warum sonst sollte ihre frisch gewaschene Wäsche aus der Waschküche plötzlich im Treppenhaus verteilt zu finden sein? Warum stolperte sie regelmäßig über Küchenabfälle auf der Fußmatte vor ihrer Wohnung? Und warum bekam sie schon seit ein paar Tagen keine Post mehr?
So sehr sie auch darüber nachdachte, ihr fiel beim besten Willen niemand ein, dem sie dermaßen auf die Füße getreten sein könnte. Wer mochte wohl dahinter stecken?

Der innere Wandel

Sie liebte es, älter zu werden. Reicher an Erfahrungen. Freier von inneren Zwängen. Mit jedem Tag ein wenig mehr.
Sie erinnerte sich an Momente der Verunsicherung, der Scham, des Unwissens. Peinlichkeiten.
Mit dem Strom schwimmen. Dazu gehören. Um fast jeden Preis.
Sie erinnerte sich, wie wichtig all das für sie gewesen war. Die Akzeptanz. Die Anerkennung. Sie hatte sich dem Diktat der Trends, der Gesellschaft unterworfen und sich dabei gefühlt, wie ein Ball auf fließendem Wasser.
Erinnerungen, die jedoch verblassten. Und diese Blässe erfreute sie.
Nein, heute waren ihre Kleider bunt und auffällig. Kleider, so selbstbewusst, wie sie selbst.
Heute sagte sie nein, wenn sie nein meinte. Zeigte Grenzen auf.
Heute machte sie ihrem Ärger Luft. Denn heute war sie älter, reicher, freier.
Sie hatte endlich zu sich selbst gefunden.