Der Weihnachtsjunkie
Um zu wissen, dass die Adventszeit näher rückte, brauchte ich keinen Kalender, keine Sternkonstellation, keine Medien. Ich hatte Micha. Wenn ich an Micha denke, überkommt mich normalerweise eine tiefe Traurigkeit. Ich vermisse ihn. Immer noch. Doch wenn ich Micha mit Weihnachten in Verbindung bringe, bin ich einfach nur erleichtert.
Micha gehörte zu den Menschen, die man im Allgemeinen als Weihnachtsjunkies bezeichnet. Anfang November wurde er zunehmend nervös. Fahrig strich er sich durch sein ohnehin schon struppiges Haar, wenn er unruhig auf seinem Stuhl, seinem Sofa, seinem Sessel umherrutschte. Eine vorweihnachtliche Besinnlichkeit wurde von ihm auf seine ganz eigene Art und Weise interpretiert. Die jährliche Stromabrechnung, die uns in der Regel eine saftige Nachzahlung bescherte, war für ihn der nicht für jedermanns Ohren bestimmte Startschuss. Der Startschuss in den Wettbewerb der Lichter zu treten.
Fünf Jahre ist es nun her und immer noch ist die Advents- und Weihnachtszeit für mich eine Zeit des Schreckens. Michas nervöse Phase hielt bereits seit zwei Wochen an. Täglich stieg er in den Keller, sortierte die säuberlich gepackten und beschrifteten Kartons mit den verschiedensten Weihnachtsdekorationen. Akkurat wurden Pläne erstellt, Lichterketten kontrolliert, defekte Lämpchen ausgetauscht, wiederum in Listen festgehalten. Die im Sommer neu erstandenen Dekorationsartikel, die in der Garage zwischengelagert wurden, mussten nun in die Pläne integriert werden. Jede freie Minute verbrachte er mit dieser Aufgabe. Ich werde nie seine leuchtenden Augen und freudig erregt geröteten Wangen vergessen. Denn genau das war es, was mich ihm sein verhängnisvolles Hobby Jahr für Jahr verzeihen ließ.
Traditionell am Sonnabend vor dem ersten Advent wurde die Leiter am Haus platziert, der Gartentisch herangerückt und die Pläne mit Steinen beschwert darauf ausgebreitet. Dann konnte es losgehen. Von oben nach unten. Auf dem Dachfirst prangte bald schon der lebensgroße Rudolph aus geschmiedeten Eisen mit einer überdimensional roten Glühbirnen-Nase, dem ein Geschirr aus Ketten angelegt wurde, damit der Schlitten mit dem darin sitzenden detailgetreuen Weihnachtsmann daran befestigt werden konnte. Micha hatte mir einmal voller Stolz erklärt, dass bei diesem Rentierschlitten samt Weihnachtsmann exakt 1678 kleine Lämpchen zum Einsatz kämen. Warum ich mir gerade diese Zahl gemerkt habe, kann ich nicht sagen. Doch der Clou war Rudolphs Nase. Die nämlich war an einen Lautsprecher gekoppelt und jedes Mal, wenn sie rot aufleuchtete, ertönte ein lautes und kraftvolles „HOHOHO“, dessen Klang durch die ganze Straße fegte. Micha war keineswegs ein technisch begabter Mensch gewesen und ich frage mich heute noch, wie er diese Konstruktion zustande brachte. Ich kann mich lediglich daran erinnern, dass er über Wochen an dieser Idee tüftelte.
Auf der Regenrinne wurden Sternenlichter befestigt, die Fenster mit Lichterketten umrandet und auf jeder Fensterbank Schwibbögen arrangiert. Danach widmete sich Micha dem Garten.
Hier tummelten sich nach einigen Stunden Weihnachtselfen, Rentiere, Schneemänner, die Tannen wurden zu Christbäumen – mit Kugeln und Lametta für den Außenbereich – und die Hecke erstrahlte im Lichtermeer. Der Weg bis zur Haustür wurde kontrastreich mit roten Sternchen beleuchtet, um am Ende des Weges auf die äußerst hässliche Mutter der Kleinen – einen riesigen abwechselnd rot, blau und grün leuchtenden Stern – zu stoßen, der sich trotzig an der Haustür festklammerte.
Micha war fast zufrieden. Jetzt fehlten nur noch ein paar Kleinigkeiten, wie Mistelzweige und Schnee. Mistelzweige hatte er bereits kartonweise auf dem Wochenmarkt besorgt und für den fehlenden Schnee hatte er ein Jahr zuvor eine Schneemaschine bei eBay ersteigert. Doch bevor er sich an die Restarbeiten machte, musste ein Probeleuchten und – nicht zu vergessen – auch ein Probe-HOHOHO des auf dem Dach befindlichen Rudolph durchgeführt werden. Der große Moment stand bevor. Micha führte den Stecker an die Steckdose, zögerte einen kleinen Moment und dann erstrahlte unser Haus, Rudolph ließ sein HOHOHO erklingen und die Weihnachtselfen im Garten winkten freundlich dazu.
Michas Augen glänzten vor Glück und er konnte nicht mehr aufhören zu grinsen.
„Ist es nicht toll?“ rief er begeistert. Eine Antwort erwartete er nicht wirklich. Beseelt machte er sich an die Restarbeiten, die – wie ich aus Erfahrung wusste – noch bis spät in die Nacht andauern würden. Ich kümmerte mich nicht weiter darum. Sollte er doch seinen Spaß haben. Ich wollte nur ins Bett.
Geraume Zeit später – ich hatte mich bereits ins Schlafzimmer zurückgezogen und es mir dort mit einem spannenden Buch gemütlich gemacht – hörte ich noch einmal Rudolphs HOHOHO, danach ein dumpfes Plopp, ein Knacken und ein Ächzen und dann war Stille. Jetzt wird er gleich fertig sein, dachte ich mir, kuschelte mich in meine Decke, löschte das Licht und schlief alsbald ein.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Michas Bett neben mir unberührt. Doch wirklich beunruhigt war ich nicht … Schließlich hatte ich den ewigen Lichtermarathon bereits seit einigen Jahren mitgemacht, so dass ich wusste, dass kleine Lampen in Weihnachtsbeleuchtungen gerne schnell das Zeitliche segneten und natürlich sofort ausgetauscht werden mussten. Vielleicht hatte die Schneemaschine auch nicht genügend Schnee produziert oder aber Rudolphs Nase leuchtete nicht im Einklang mit dem HOHOHO des Weihnachtsmanns. Für Micha gab es viele Gründe, die Nacht lieber mit seiner Dekoration als mit seiner Frau zu verbringen. Schließlich musste gerade am ersten Advent alles perfekt sein.
Ich schlurfte in die Küche, kochte Kaffee und deckte den Frühstückstisch. Nachdem ich schließlich geduscht und angezogen war, machte ich mich auf die Suche nach Micha. Als ich die Haustür öffnete, stand ich vor einem riesigen Kunstschneeberg, auf dem gekonnt die Weihnachtselfen Schlitten fuhren. Die schmiedeeisernen Rentiere gruben ihre Nasen in den Kunstschnee, gerade so, als ob sie verbergen wollten, dass sie nicht Rudolph waren und keine leuchtendroten Nasen hatten. Doch wo war Micha?
Vorsichtig trat ich aus der Haustür und lugte um die Ecke. Dann sah ich ihn. Der Schreck fuhr mir durch alle Glieder. Anscheinend war doch irgendein Kabel, ein Gerät, ein elektrisches Deko-Teil defekt gewesen. Mir wurde flau als ich mich an dieses Plopp, dieses Knacken und Ächzen am Abend zuvor erinnerte. Micha lag merkwürdig verdreht über der Leiter. Seine rechte Hand umklammerte eine Lichterkette im Tannenbaum, die linke umfasste das Kabel der Schneemaschine.
Es war zu spät für den Notarzt. Zu spät für Micha. Aber zumindest hatte das Probeleuchten funktioniert.
aus: Iris Boden – Das Leben ist ein Regenbogen – Kurzgeschichten