Schlagwort-Archive: 7 Todsünden

Sie ist da …

Ich erinnere mich an die Zeit, kurz nach der Diagnose. Eine Zeit voller Angst und Hilflosigkeit. Sie fuhr in Urlaub. Niemand wusste, wo sie war und für wie lange. Keine Erreichbarkeit.
Ich erinnere mich an die Zeit im Krankenhaus. Kurz vor seiner OP. Eine Zeit voller Anspannung und Ungewissheit. Sie war wiederum in Urlaub. Doch dieses Mal rief sie an. Muss ich kommen? war ihre Frage.
Ich erinnere mich an die Zeit auf der Intensivstation. Mein Vater begleitete mich, um seinem Schwiegersohn über die Wange zu streicheln.
Ich erinnere mich an die Zeit, als es ihm schlecht ging. „Bescherungen“ beseitigen – säubern. Nein, sie könne das nicht.
Ich erinnere mich an nicht eingehaltene Absprachen. Aber was galten Absprachen. Der Sohn verstand nichts (mehr) davon.
Ich erinnere mich an die Zeit der Strahlentherapie, in der sie einen Nachmittag die Fahrt zur Klinik übernehmen sollte. Sie nahm von ihrem Sohn Benzingeld für eine ganze Tankfüllung.
Ich erinnere mich an die Zeit, als sie endlich ihren Traum verwirklichte und auszog. 500 Kilometer weg von ihrem Sohn. Überschrieb ihm die Wohnung, ohne nichts unversucht zu lassen, ihn zu übervorteilen.
Ich erinnere mich an so viele Begebenheiten. Immer wenn sie hier ist und ihre Schwester besucht, werden sie lebendig.
Tja, und im Moment ist sie hier. Seit drei Tagen schon. Aber ihren Sohn hat sie noch nicht begrüßt.

Neid II oder: Die schöne Nachbarin

Sie betrachtete ihn. Wie attraktiv er doch war. Immer, wenn sie sich trafen, erfüllte es sie mit unermesslichem Stolz, dass ihr Bruder so ein wundervoller Mensch war. Äußerlich und innerlich. Schön, erfolgreich, liebenswert. Und seitdem sie wusste, dass ihre Krankheit nicht heilbar war, langsam voranschreiten, bis sie früher oder später als Pflegefall enden würde, seitdem liebte sie ihn umso mehr. Er kümmerte sich um sie, baute sie auf, spendete Trost, bot ihr ein abwechslungsreiches Leben.

Doch in letzter Zeit hatte sie das untrügliche Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Jemand versuchte, ihr das Leben schwer zu machen. Aber warum? Und vor allem – wer?
Sie lebte erst sei kurzem in dieser Stadt, war ihrem Bruder gefolgt. Sie kannte niemanden. Und doch schien es, als wollte sie jemand von hier vertreiben. Warum sonst sollte ihre frisch gewaschene Wäsche aus der Waschküche plötzlich im Treppenhaus verteilt zu finden sein? Warum stolperte sie regelmäßig über Küchenabfälle auf der Fußmatte vor ihrer Wohnung? Und warum bekam sie schon seit ein paar Tagen keine Post mehr?
So sehr sie auch darüber nachdachte, ihr fiel beim besten Willen niemand ein, dem sie dermaßen auf die Füße getreten sein könnte. Wer mochte wohl dahinter stecken?

Neid

Ihre Nasolabialfalten waren stärker ausgeprägt als jemals zuvor. Ihr Mund verkniffener, die Lippen erschienen nur noch als schmale Striche in ihrem ohnehin schon verhärmten Gesicht. Die Augen blitzten böse und doch konnte man eine tiefe Traurigkeit darin erkennen. Graue, schlaffe Haut unterstrich diese Ausstrahlung tiefer Unzufriedenheit. All diese Veränderungen hatten genau vor sieben Monaten, drei Wochen und zwei Tagen begonnen. Denn da war SIE in ihr Leben getreten: Die neue Nachbarin.

Diese Frau war der Inbegriff der Vollkommenheit. Alles, sie hatte einfach alles. Trug es zur Schau, zeigte jedem sämtliche Unzulänglichkeiten auf. Was für ein Miststück!

Hilde seufzte. Gerade eben hatte sie sie durch den Türspion beobachten können. In einem traumhaften Cocktailkleid aus fliederfarbenem Chiffon, das perfekt ihre schlanke Figur unterstrich, den passenden Pumps an ihren grazilen Füßen mit schmalen, strassbesetzten Riemchen um ihre zarten Fesseln, war sie Richtung Aufzug getänzelt. An ihrer Seite ein Mann im Smoking … und was für ein Mann … George Clooney war nichts dagegen.
Dieses Bild brannte sich in ihren Kopf. Nie würde sie es wieder los werden.

Sie betrachtete sich im Spiegel. Das, was sie sah, ließ sie erschaudern. Eine Diät wäre nicht schlecht. Ein Friseurbesuch käme auch ganz gut. Vielleicht auch eine kosmetische Behandlung? Neue Klamotten. Doch dafür fehlte das Geld. Und seitdem Albert sie verlassen hatte, reichte es vorne und hinten nicht. Dieser Scheißkerl. Gab jetzt sein Geld für eine aus, die seine Tochter sein könnte.
Aber all das würde auch nicht so ein betörendes Lächeln auf ihr Gesicht zaubern. Warum konnte sie nicht so sein wie ihre Nachbarin? Das Leben war ungerecht. Warum nur hatten manche alles, und andere wiederum nichts?

Hilde atmete hörbar aus. Diese Frau musste weg. Aus ihren Augen. Aus der Wohnung neben ihr. Wenn sie es recht überlegte, war sie eine Schande für das ganze Haus. Sie musste etwas unternehmen. Nur was?

Sie schlüpfte in die rosafarbenen Plüschpuschen, schlurfte in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und begann das Projekt „Nachbarin vergraulen“ detailliert zu planen.

Wut

Er rammte jedem, der ihm entgegen kam, seinen rechten Ellbogen in die Rippen. All seine Kraft nahm er dafür zusammen. Und er fühlte sich sauwohl dabei. Stark. Überlegen. Unangreifbar.
Diejenigen, die seinen Ellbogen zu spüren bekamen, waren zu überrascht, um reagieren zu können Sie krümmten sich vor Schmerz, hielten sich entsetzt die Seite und hofften angstvoll darauf, dass es bei diesem einen Angriff blieb.
Je mehr Rippen er traf, desto aggressiver wurde er. Niemand würde ihn je wieder eine Memme nennen. Demütigen vor seinen Freunden. Erst recht nicht sein Vater, der eigentlich nicht sein Vater war. Nur irgend so ein dahergelaufener Penner. Der Stecher seiner Mutter.
Wieder ein kraftvoller Stoß seines Ellbogens. Wenn er nicht hinsah, wen er traf, war es leichter. Zu leicht. Die rasende Wut entlud sich. Neutral. Ohne Mitgefühl.
Noch einmal. Und noch einmal. Was machen nur all diese Penner auf der Straße? Ihr habt es nicht anders verdient. Seid genau wie er. Arschlöcher. Feiglinge. Drecksäue.
Plötzlich traf ihn etwas mitten ins Gesicht. Er schmeckte Blut. Er spuckte. Ein Schneidezahn in einer blutigen Spuckepfütze. Jemand hatte sich gewehrt. Endlich!
Er sank auf die Knie, betrachtete seinen Zahn. Dann fing er an zu weinen. Wie ein Kind. Wie ein Kind, das er war.