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Generationen

Martha denkt nach. Über ihr Leben. Wie es bis heute verlaufen ist. Sie fühlt sich oft alleine. Ihre Gesundheit lässt keine großen Unternehmungen zu.
Sie sagt: „Du musst dich nicht um mich kümmern.“
Sie denkt: „Du besuchst mich so selten.“

Claudia denkt nach. Über ihr Leben. Wie es bis heute verlaufen ist. Sie fühlt sich oft überfordert. Ihr größter Feind ist ihr schlechtes Gewissen.
Sie sagt:“ Ich muss zur Arbeit.“
Sie denkt: „Wie soll ich das alles nur schaffen?“

Martha denkt nach. Früher war alles anders. Früher war alles besser. Die Kinder waren noch klein. Die Familie war stets zusammen.
Sie sagt: „Alt sein ist nicht schön.“
Sie denkt: „Nie hast du Zeit für mich.“

Claudia denkt nach. Eine Pflicht folgt der nächsten. Kümmern muss sie sich.
Sie sagt: „Ich werde mich anders organisieren.“
Sie denkt: „Ich muss mein Hobby einschränken … oder aufgeben.“

Martha fühlt sich nicht wohl. Sie sehnt sich nach Zuwendung. Will nicht immer erwachsen sein. Braucht Verständnis und Liebe.

Claudia fühlt sich nicht wohl. Sie sehnt sich nach mehr freier Zeit. Will nicht immer vernünftig sein. Braucht Verständnis und Liebe.

Nostalgisches

Ich sage nicht, dass früher alles besser war. Also ehrlich, wer braucht heute noch Schulterpolster, Tonbandkassetten mit vorprogrammiertem Bandsalat, Telefone mit Drehwählscheibe, hinter dem man ein Endloskabel durch die Wohnung zog, während man telefonierte. Wie schrecklich war es an der Autotür das Knöpfchen zu drücken, die selbige dann zuzuwerfen, um danach mit Schrecken festzustellen, dass der Schlüssel noch im Zündschloss steckte? Wer mag heute schon noch orange-braun gemusterte Tapeten? Auf die Hitparade kann ich ebenso verzichten, wie auf Polyester-Pullover. Obwohl … Gibt es die nicht heute auch noch? Die Polyester-Pullover meine ich. Egal!

Manches war aber auch ganz nett. Fernsehansagerinnen zum Beispiel. Oder die Geschichten von Ute, Schnute, Kasimir in den Werbepausen. Der Tankwart, der herbeigeeilt kam, um das Auto zu betanken – weil es zum Service gehörte – und gleich die Windschutzscheibe reinigte. Ganz Eifrige prüften dann auch noch den Reifendruck. Tja, selbst Telefonhäuschen mochte ich. Und, dass man sich für diverse Anlässe fein machte. So richtig fein. Na ja, manchmal war es auch ziemlich unbequem. Aber fein! Was habe ich mich gefreut, als die gute alte A*hoi-Brause wieder reanimiert wurde. Eine ganze Maschinerie Erinnerungen ist da in Gang gesetzt worden. Toll!

Und nun weiß ich auch, was ich mir über kurz oder lang wieder anschaffen werde: Einen richtig tollen nostalgischen Wasserkessel. So einen mit Flötenaufsatz. Also, so einen Flötenkessel. Denn wenn der Pfiff des Kessels sagt, dass das Wasser kocht, das hat doch wirklich etwas ganz Nostalgisches, oder?!

Bingo

Ein kleiner grüner Sonnenschirm schmückt ihren Rollator, den sie zufrieden lächelnd über die Straße schiebt. Nein, den Gehweg nutzt sie nicht. Zu abschüssig für sie und ihr Gefährt. Lieber zwingt sie die Nachbarn in ihrer Straße zum Schritttempo. Ihre stützbestrumpften Beine bewegen sich langsam Schritt für Schritt, wobei ihr buntgemustertes Kleid munter im Winde flattert. Fein hat sie sich gemacht! Kirschmundrot sind ihre Lippen, ihre Augen leuchten aufmerksam unter blauem Lidschatten.
Es ist Donnerstag. Bingo-Tag in der Seniorenresidenz. Und da ist sie auf jeden Fall dabei …

Der Fahrscheinautomat

Wie lange ich bereits hier stehe, dass weiß ich nicht. Fahrscheinautomaten haben kein Zeitgefühl. Aus diesem Grund muss die Uhrzeit, die auf die Fahrscheine gedruckt wird, immer wieder korrigiert werden. Uhrzeiten sind mir egal. Stehe ich doch zu jeder Tages- und Nachtzeit auf diesem gottverlassenen Bahnsteig. Viele Züge fahren hier nicht. Eine S-Bahnlinie und ein Regionalzug. Ansonsten irgendwelche Güterzüge, die eh nicht hier halten.

Menschen, die hier regelmäßig in eine S-Bahn oder in einen Zug steigen, beachten mich nicht. Ziemlich unhöflich, wie ich finde. Gerade sie sehen mich doch jeden Tag. Obwohl … sehen sie mich wirklich? Nun ja, ist ja auch egal. Diejenigen, die mich mit Geld füttern, erhalten von mir einen entsprechenden Fahrschein. Doch meistens stellen sich diese Leute ziemlich unbeholfen an. Dabei sage ich ihnen doch Schritt für Schritt, was sie tun müssen. Aber nein – sie drücken wild und ungeduldig an mir herum. Manche reden auch mit mir. Allerdings könnten sie das auch sein lassen. Ich werde doch meistens nur wüst beschimpft.

Vor den Nächten fürchte ich mich am meisten. Es ist schon mehr als einmal vorgekommen, dass man mir Böses wollte. Mit Brechstangen und sonstigen gefährlichen Werkzeugen ist man mir zu Leibe gerückt. Aufgeschlitzt haben sie mich, in meinen Eingeweiden herumgewühlt, um das Geld in meinem Innern zu stehlen. Oft blieben meine Verletzungen tagelang unbemerkt, bis dieser freundliche Mensch kam, um mich zu reparieren.
Da bin ich wahrlich kein Held. Sobald es dunkel wird, schließe ich meine Augen und hoffe auf eine ruhige Nacht.

Einmal musste ich einen Überfall erleben. Ich wollte Hilfe holen. Doch da wurde mir bewusst, dass ich mich nicht bewegen konnte. Regungslos stand ich da und konnte mich keinen Millimeter rühren. Hilflos musste ich mit ansehen, wie dieser junge Mensch von seinen Angreifern niedergeschlagen und ausgeraubt wurde. Nur gut, dass sie ihm nicht auch den Bauch aufgehebelt haben. Denn eines habe ich gelernt: Bei Menschen ist so eine Reparatur weitaus schwieriger als bei einem Fahrscheinautomaten.

Neulich hat ein Mensch die ganze Nacht zu meinen Füßen gelegen und seltsame Geräusche gemacht. Das war mir ein wenig unangenehm, aber irgendwie habe ich mich sicherer gefühlt. Nicht so allein. Und insgeheim hatte ich gehofft, dass er in der folgenden Nacht wiederkommen würde. Tat er aber nicht. Schade.

Nein, ich führe kein besonders schönes Leben, auch wenn das manch einer denkt. Ich beneide die Fahrscheinautomaten auf den großen Bahnhöfen. Die sind wenigstens nicht so alleine.

Aber ich bin in die Jahre gekommen. Es gibt bereits leistungsstärkere Automaten als mich. So kann ich darauf hoffen, dass ich bald abgelöst werde. Das wäre wirklich schön …

Dorffest

Einmal im Jahr für einen Abend. Dann befreite sie sich von diesen Fesseln. Kramte den Schlüssel aus seinem Versteck, steckte ihn in das Schloss und legte die Ketten beiseite.
Einmal im Jahr für einen Abend. Den Alltag vergessen und den Rausch der Jugend wieder aufleben lassen. Tanzen und flirten auf dem Fest in ihrem Dorf vergangener Jahre. Es war schon lange nicht mehr ihr Dorf.
Doch einmal im Jahr für einen Abend lebte sie in ihrer Vergangenheit, ließ das aufregende Gefühl von Abenteuerlust und Unbesiegbarkeit wieder entflammen. Unerreichbar schön und begehrenswert, die Königin des Festes in dem Dorf ihrer Jugend.
Einmal im Jahr für einen Abend würde sie ihn wiedersehen. Der Held ihrer Mädchenträume, ihr Ritter auf dem weißen Pferd. Als galant würde sie seine Komplimente empfinden, in sich aufsaugen, fest in ihrem Herzen verankern.
Einmal im Jahr für einen Abend. Seit nunmehr 50 Jahren. Und die Schmetterlinge flatterten munterer denn je.

Die Gedankenfabrik

Es rattert und knattert. Im Kopf hat sich eine Maschinerie entwickelt, die ständig erneuert, modernisiert und erweitert wird. Erhebungen werden durchgeführt, nach deren Auswertung die Produktionsleistung gesteigert werden soll. So purzeln die Gedanken von den Laufbändern, werden vermessen, sortiert, protokolliert und verpackt. Manche in Schubladen gesteckt, andere wiederum sofort freigesetzt. Gute Erzeugnisse sind die, die etwas bewirken. Die Gedanken selbst sind neutral. Es gibt weder gute noch böse. Entscheidend ist, was der Verbraucher aus ihnen macht.
Die Produktionsleitung hat nunmehr beschlossen, dass die Nachtschicht nicht mehr erforderlich ist. Am Tage werden genügend Gedanken produziert, so dass das Werk nachts – wenn auch nicht geschlossen – doch auf Ruhemodus geschaltet werden kann.
Eine gute Entscheidung. Das Management scheint kompetent und stimmt dem Vorschlag zu. Doch ist es auch in der Lage, die Neuerungen durchzusetzen?
Der Betriebsrat fürchtet Entlassungen. Oder Arbeitszeitverkürzungen. Zu viele Synapsen sind beschäftigt. Gibt es wirklich genug Arbeit für alle Beschäftigten in der Früh- und Spätschicht? Ohne Nachtschicht?
Das Management arbeitet derzeit an einem Sozialplan. Schließlich soll die Gedankenfabrik weiterhin ein Unternehmen der Zukunft sein und auch in ein paar Jahrzehnten gute Produkte herstellen. Man wird sehen, was weiter passiert …

Der innere Wandel

Sie liebte es, älter zu werden. Reicher an Erfahrungen. Freier von inneren Zwängen. Mit jedem Tag ein wenig mehr.
Sie erinnerte sich an Momente der Verunsicherung, der Scham, des Unwissens. Peinlichkeiten.
Mit dem Strom schwimmen. Dazu gehören. Um fast jeden Preis.
Sie erinnerte sich, wie wichtig all das für sie gewesen war. Die Akzeptanz. Die Anerkennung. Sie hatte sich dem Diktat der Trends, der Gesellschaft unterworfen und sich dabei gefühlt, wie ein Ball auf fließendem Wasser.
Erinnerungen, die jedoch verblassten. Und diese Blässe erfreute sie.
Nein, heute waren ihre Kleider bunt und auffällig. Kleider, so selbstbewusst, wie sie selbst.
Heute sagte sie nein, wenn sie nein meinte. Zeigte Grenzen auf.
Heute machte sie ihrem Ärger Luft. Denn heute war sie älter, reicher, freier.
Sie hatte endlich zu sich selbst gefunden.