Einer der spärlichen Sonnentage trieb mich in mein Lieblingscafé. Die Stühle draußen wurden zusätzlich mit Decken versehen, was mich noch mehr dazu veranlasste, einen Kaffee in der Herbstsonne zu trinken und dabei die vorübergehenden Passanten zu beobachten. Viel Zeit blieb mir allerdings nicht dafür.
Ich sah sie schon von weitem: Charlotte. Mit mehreren Tüten aus den wenigen Designer-Läden unseres Städtchens stöckelte sie mir strahlend entgegen.
„Meine Liebe, wie schön, dass ich dich hier treffe“, zwitscherte sie und ließ sich dabei elegant in den Korbsessel neben mir plumpsen.
„Ich war nur ein paar Kleinigkeiten besorgen und dachte daran, wie gut doch jetzt ein Espresso wäre.“
„Schön dich zu sehen, Charlotte“, log ich und betrachtete sie unauffällig aus den Augenwinkeln. Die perfekt durchtrainierte Konfektionsgröße 36 steckte in einem eleganten Hosenanzug, an dessen unteren Ende zart pedikürte Füße in Pumps mit nahezu schwindelerregenden Absätzen steckten. Am oberen Ende des Anzugs lugte ein – sicherlich von einer Visagistin – perfekt geschminktes engelhaftes Gesicht, umrahmt von hellbraunen Locken, hervor.
Diese Frau hatte scheinbar alles. Sie strotzte vor Gesundheit, war – soweit ich wusste – glücklich mit ihrem Matthias seit vielen Jahren verheiratet, der in der Firma ihres Vaters ordentlich Karriere gemacht hatte. Ich seufzte. Der Tag hätte so schön sein können.
„Ach, meine Liebe, wie ungewöhnlich, dich um diese Uhrzeit hier zu treffen.“
„Ich habe Urlaub“, gab ich eine Spur verärgert von mir.
„Oh, wie schön. Und wie geht es deinem Mann?“
„Danke, gut.“
„Ach weißt du, ich beneide dich manchmal wirklich.“
Hatte ich mich verhört? Mich? Eine rheumatische Teilzeitangestellte, mit ein paar Pfunden zu viel für Größe 36 (ja, ja auch 38), unsportlich und mit einem obendrein noch zu pflegenden Ehemann?
„Warum? Weil ich Urlaub habe?“ fragte ich daher mit einem Hauch Provokation in der Stimme. Schließlich hatte die arme Charlotte nie Urlaub. Früher war sie von Beruf Tochter. Dann wurde sie zur Ehefrau befördert. Berufe ohne Urlaubsanspruch.
„Ach nein“, lachte sie. „Na ja, weißt du, du bist so … so … grundlegend.“
Grundlegend. Aha! War das jetzt gut oder schlecht? Ich überlegte noch, ob ich nun geschmeichelt oder beleidigt sein sollte, da plapperte sie schon weiter.
„Schau dich an. Du strahlst so eine Verlässlichkeit und Zufriedenheit aus, dass man dich einfach beneiden muss.“
Okey, ich konnte geschmeichelt sein. Entspannt lehnte ich mich zurück. Vielleicht war es ja doch nicht so schrecklich, hier mit Charlotte zu sitzen.
„Doch, doch, glaube mir, neben dir verblassen alle Versuche, das Beste aus sich herauszuholen. Ganz einfach, weil du so bist, wie du bist und das auch ausstrahlst.“
Ich schluckte:“ Charlotte? – Was … willst … du?“
„Einen Espresso.“
„Ich meine, was willst du von mir?“
„Ich? Von dir? Nichts. – Aber da du gerade fragst … Könntest du mich zur Werkstatt bringen? Ich muss dort noch mein Auto abholen.“
Also doch. Ganz ohne Gegenleistung bekommt man eben doch nicht einfach so solche Komplimente.